Spatial Conversations in Rio

Was macht den Ort des künstlerischen Austauschs und seiner Erweiterung aus?

Michael Kress,  im April 2011

 

Das räumliche Spektrum an denen sich Kunst zeigt, hat in den letzten 20 Jahren viele Exotik erfahren. Wir kannten bislang Museen, Galerien, Ateliers als Orte des ästhetischen Vollzugs. Nun werden Ausstellungen in der U-Bahn, im Abrisshäusern oder anderen Immobilen-Leerständen temporär platziert. Der hiermit verfolgte Ansatz möchte die Kunst aus den gewohnten Bahnen der Rezeption bringen und offenbart die Präsentation von Kunst in Räume, die allgemein als rezeptionsfremd gelten.

Diese Verschiebung raus aus dem Tresor der Kunst, dem Museum, in die Fremdheit, verspricht eine Bewegung hin zum Rezipienten, weg von vormals elitären Kreisen von Kennerinnen, hin zum Alltag und einer Vermischung mit selbigen. Die Besucher dieser Art von Ausstellung sollen zuerst den exklusiven Ort vernehmen, sich darin bewegen, um dann diesen mit dem Kunstwerk zu verbinden, während das Kunstwerk den Ort annimmt, in sich einfügt oder sich diesem entgegenstellt. Der Künstler möchte sich zeigen und geht dieses Spiel ein.

Rezipientin, Ort und Werk beginnen eine Verhandlung; mitunter wird auch die KünstlerIn mit hinzugezogen, je nach Auslage seiner künstlerischen Bezüge. Was das sinnende Sehen verschieben soll, was hier das Verstehen renovieren möchte, sucht nach gelungenen Kombinationen von Werk, Ort und Künstler. Als gelungen gilt im Allgemeinen die Konstellation, die weiterhin den konventionellen Lesbarkeiten folgt; als gescheitert versteht man meist einen Komplex, der sich dieser Lesbarkeiten erwehrt. Werk, Ort und Künstler bleiben je bei sich und gehen keine Verbindung ein. Der Rezipient erlebt sich in dieser Darbietung als Ausgeschlossener – Künstler, Kunst, ExpertenInnen und Ort behaupten sich und verschließen sich einander. Die Erweiterung des Raumkonzeptes der Kunstpräsentation wird zur Tautologie seiner selbst und verschwendet die Freiheiten, die einst in der Konzeption des „Object trouvé“ ermöglichte wurden. („Alles was sich im Raum der Kunst etabliert ist Kunst wird hier verkehrt in“: „Überall wo Kunst installiert wird, ist dieser auch ein Ort der Kunst, der sich nun von seiner Originalität abstrahiert“).

Das so genannte „Schweigen Duchamps“ ermöglichte Kunstproduktion und Rezeption als gleichbedeutende Handlung zu verstehen. Werke gelten als Anlass einer ästhetischen Praxis, die wie eine Leseanleitung Rezipient und Künstler zu Verhandlungspartnern macht. Was beide Partner eint ist ein ungeschriebener Text, der definiert in welchem Kontext und mit welchen Mitteln die Verbindung verhandelt werden kann.( „This Way Brown“ wäre dem zufolge ein früher Schritt aus der Kunst herauszutreten, um als Aufforderung und Anregung zu gelten. [siehe: Stanley Brouwn, This Way Brouwn, 1961]).

Doch wie könnten Ort, Kunst, Rezipientin, der Expertin und Künstlerin miteinander zur ‚gemeinsamen Sache’ gebracht werden? Welche Rolle spielen Tradition, Disziplinarität, Institutionalität? Was bedeute die Entmaterialisierung von Kunst, wie von der Konzeptkunst vorgeschlagen? Wie versteht sich das Verhältnis von Rezipient und Produzent im digitalen Zeitalter? Was meint ‚3030’ von Deltron, nach dem im Jahr 3030 alle Menschen DJs sind? Welche Antwort braucht die Bilderflut am Kunstmarkt? Wie mit der Agonie der Künstlermythen verfahren?

… All diese Fragen sollen und können hier nicht betrachtet werden, stattdessen lade ich ein zu einer kurzen Entdeckungsreise:

Wir bewegen uns unweit der Route Alexander von Humboldts durch seinen „Kosmos.“ Claude Levi Strauss ist quasi nur kurz um die Ecke in den ‚traurigen Tropen’ und James Bond kämpft direkt über unseren Köpfen auf dem Dach einer Seilbahn, in Moonraker. Der Blick geht nach oben, wir sind am Fuß des „Pão de Açúcar“ dem schwarzen Riesen in Rio de Janeiro. Von weitem nähern sich verschieden Klänge, Instrumente, Perkussion, viele Stimmen. Wir eilen in eine Richtung. Es ist früh für diese Stadt. Der Regen der Nacht verdampft in den ruhigen Morgen durch das grünliche Licht der Platanen. Die Escola Portatil öffnet jeden Samstag um 7.30 Uhr die Türen für hunderte von Schülern, die hier einer Passion folgen und die Musik des ‚Choro’ erlernen wollen. Choro ist eine lange vergessene Musikrichtung, die Ende des 19. Jahrhunderts von meist portugiesischen Musikern in Rio gespielt wurde. ‚Choro“ bedeutet Klagen und verbindet Elemente der Polka und des Walzers mit der Musik der afrikanische Sklaven. Die Instrumente des ‚Choros’ sind u.a. die siebensaitige Gitarre, die Bandolim, Flöte und das Pandeirio.

Wir kommen auf den Campus. Ein von kleinen Schulgebäuden umrankter Platz unter Bäumen eröffnet das Herz der Choro-Schule. Die ‚Roda de Choro ist eine ungezwungene Zusammenkunft aller Schüler und Lehrer, Besucher und Freunde. Vor und nach dem Unterricht sitzen die Musiker in einem großen Kreis und spielen hier auf der Basis von traditionellen musikalischen Figuren. Improvisationen verändern den Ablauf der Figur. Die Roda ist der Jam-Session im Jazz verwandt. Die Musiker und Teilhaber setzen sich, spielen, stehen auf, verändern die Position auf dem Platz, spielen einige Figuren mit, hören dann wieder zu, unterhalten sich mit den Nachbarn, nehmen einen Schluck aus der Wasserflasche, kommen und gehen. Es scheint, als gäbe es keinen definierten Anfang und kein bestimmtes Ende der Roda. Man gerät dazu und hat den Eindruck in ein endloses Kontinuum überzugehen.

Anfang und Ende sind vorübergehend und zu vernachlässigen. Das Spiel der Roda hat vorübergehend in der vergangenen Woche eine Unterbrechung erfahren und wird in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren weitergeführt. Der spontane Blick in diese Runde verspricht in diesem Moment eine kurze Zeugenschaft erleben zu können. Der Blickende / Hörende definiert einen Schnitt, der besagt: von hier aus und bis hierhin wird ein unfassbar Ganzes verstanden. Die Wiederholung der Arten und Weisen der Musik ist wie ein generativer Reigen, eine Serie aus interpretierten Teilen, die in einer quasi endlosen Sequenz verläuft. Es wird in der Idee immer weiter gespielt. Rezipient und Darbieter sitzen auf ein und demselben Platz. Sie ergänzen sich, bedingen einander.

Die Gruppe der Teilhaber wächst, schrumpft und wächst in Wellen. Die Zuhörer verweilen mitten unter den Instrumentalisten, summen mit, singen und klatschen. Die Instrumente werden umhergereicht und ausgetauscht. An der Roda nehmen Musiker allen Alters teil. Einige Ältere gehen durch die Reihen und hören den Jüngeren zu. Sie schenken Gehör und Anregung. Der Jüngere spielt den Vorschlag des Älteren, um die Phrase anschließend wieder mit den eigenen Akzenten zu versehen. Älterer und Jüngerer schenken sich ein Lächeln. Die Gruppe der Roda nimmt ihre Plätze in einer nicht hierarchischen Weise ein. Es ist keine Struktur zu erkennen, die ein Vorne und Hinten, einen Oben und Unten etabliert. Im inneren des Kreises sitzen die Menschen, die offensichtlich gerade am längsten an dieser Roda teilnehmen.

Das Informal der Gruppe wird von den Zeiten des Unterrichts der Choro Schule wie von unsichtbarer Hand geleitet. Wie auf Zuruf verlassen ganze Instrumenten-Gruppen den Schauplatz, um in den Unterricht zu gehen. Für einige Minuten fehlt nun eine größere Gruppe von Pandeiro*-Spielern, um dann wenige Momente später von einer größeren Gruppe anderer ausgetauscht zu werden, die bereits den Unterricht hinter sich haben. Die Roda de Choro lebt von dem ‚dazwischen sein,’ die Kraft liegt in der Befindlichkeit vor und nach dem Unterricht. Diese Sequenzen von Vor und Nach, diese Wiederholungen, die wie in einem Sisyphos-Moment, Alltagsabläufe takten, schenken dem Mühen, auch hier in der Kunst eine besondere Aufmerksamkeit und schlägen ein Situieren im ‚Zwischenraum’ vor. Die Roda de Choro wird wieder stattfinden, am Fuß des schwarzen Kegels, der das Symbol für dieser Stadt ist. Ich kann annehmen, dass in der vergangen Woche eine ähnliche Sequenz wie die Meine Wiederholung erfuhr, um zu ahnen, dass diese in der kommenden Woche weiter geführt werden wird.

Der Ort des Austausches und der Erweiterung in einer diskursiven Konversations-Kunst könnte diesem von mir im Jahr 2009 erlebten Wechsel von Kunst, KünstlerIn, RezipientIn und Ort der Konversierung folgend an Orten und Sequenzen des Dazwischen etabliert und gefunden werden. Dieser Ort, dem Beispiel folgend, könnte sich zwischen Räumen der Tradition, der Institutionalisierung von Kunst, Produzenten und Rezipienten ereignen. Ein Raum des Vorher und Nachher in einem zu etablierenden Kontinuum verspricht eine andere Haltung von Bereitstellerin und Annehmerin von dem was bislang im Spiel von Werk, Künstler und Rezipient funktionierte. Raum und Ort der Konversation geben eine andere Ordnung vor und bestimmen so eine erweiterte gesellschaftliche Funktion von Kunst.

 

* eine Art Tamburin mit Schellen und Trommelfell, dass in feinster Aufführung das klangliches Spektrum eines Schlagzeugs ersetzen kann).